Die Grenzen der Wahrheit

Der Fall Relotius hat mich zum Nachdenken angeregt über mein eigenes Verhältnis zur Wahrheit. Als Hospitant und freier Reporter habe ich erfahren, dass ein wenig „Flunkerei“ in Ordnung ist, sofern sie der Geschichte dient. Ein Standardwerk der Journalistenausbildung erlaubt sogar das Erfinden von Protagonisten. Was soll dieser diffuse Umgang mit der Wahrheit?  

Deutsche Medien führen zurzeit eine Debatte um redaktionelle Abläufe. Wie lässt sich verhindern, dass erlogene Texte in der Zeitung erscheinen? Dass Reporter ihren recherchierten Fakten etwas hinzudichten? Häufig habe ich von Forderungen nach mehr Teamarbeit und Kontrolle der Reporter gelesen. Das sind sicher sinnvolle Maßnahmen. Doch meinen Erfahrungen nach liegt noch etwas viel Grundlegenderes im Argen: Unter Journalisten gibt es keinen Konsens, wie bei erzählerischen Stilformen mit der Wahrheit umzugehen ist.

Ich habe drei Jahre lang Online-Journalismus studiert und fünf journalistische Praktika absolviert. Ich kann mich an keine Lehrveranstaltung und keine redaktionelle Debatte dazu erinnern, wo die zulässige Dramatisierung endet und wo die unzulässige Verfälschung beginnt. Es gibt zwar eine Grenze, die Reporter nicht überschreiten dürfen – aber sie ist äußerst verschwommen.

Mehrmals habe ich erfahren, dass Wahrheit im Journalismus Verhandlungssache ist, dass dramatisiert, interpretiert und manchmal auch verfälscht wird. Sogar ein Standard-Lehrwerk zur Reportage empfiehlt diese Arbeitsweise, mehr dazu später. Und auch unter meinem Namen standen schon falsche Begebenheiten in der Zeitung. Dazu will ich drei kurze Episoden erzählen.

Fusion zweier Protagonisten

Die erste Episode stammt aus dem Frühjahr 2017. Während eines Praktikums bei einer überregionalen Tageszeitung schrieb ich ein Feature über den Beruf des Croupiers. Dazu besuchte ich die Spielbank Wiesbaden und setzte mich einige Stunden an einen Pokertisch. Zwei Szenen merkte ich mir: In der einen gewann ein älterer Herr sehr viel Geld, in der anderen wütete ein etwas jüngerer Herr über einen Fehler des Croupiers.

In meinem Text fusionierten die beiden Herren zu einem. Ich entschied mich für diesen Kniff, weil ich dachte, dass der Artikel mit zwei unbedeutenden Protagonisten holpriger zu lesen wäre. Keiner der beiden Herren erschien mit Namen oder Foto. Es gab also keine Geschädigten und die Abweichung von der Wahrheit war sehr gering. Als ich mit dem zuständigen Redakteur den Text redigierte, fragte ich ihn natürlich, ob mein Vorgehen erlaubt sei. Er bezeichnete es als grenzwertig. Damit war die Diskussion beendet und mein Text erschien unverändert.

Ausgedachte Szenen

Die zweite Episode stammt aus dem vergangenen Frühjahr. In Sri Lanka habe ich zwei Tage auf den Teeplantagen im Hochland verbracht, um über die Lebensbedingungen der Teepflückerinnen zu berichten. Sie hausen in verfallenen Baracken ohne Wasser und arbeiten für einen Hungerlohn. Wenn Frauen sich ihren Männern nicht unterordnen, kommt es zu Misshandlungen. Die Lebensbedingungen sind wirklich schlimm.

Den Text und die Fotos dazu habe ich an eine Wochenzeitschrift verkauft – meine erste sozialkritische Auslandsreportage. Ich bin davon ausgegangen, dass größere inhaltliche Änderungen vor der Veröffentlichung mit mir abgesprochen werden.

Einige Wochen später entdeckte ich meinen Artikel zufällig in einem Zeitschriftenladen. Sprachlich und inhaltlich waren einige Passagen umgestellt worden. Das ist normale Arbeitsweise und für mich vollkommen in Ordnung. Allerdings war ich wirklich verärgert darüber, dass in dem Text mir unbekannte Szenen und Zitate auftauchten. Der Redakteur hatte sie einfach hinzugedichtet.

Thagvelee Pushparanee

Die Finger der Protagonistin Thagvelee waren auf einmal „blutig“ und von Mücken „zerstochen“ – beides schlichtweg erfunden. Ebensolcher Nonsens: Thagvelees Aussage, dass sie ihr langärmliges Hemd als Schutz gegen Mücken trage. Und um das sowieso schon trostlose Teedorf zusätzlich zu verdüstern, hatte der Redakteur einen braunen dreibeinigen Hund in einen grauen dreibeinigen Hund verwandelt. Hinzu kamen etliche zwar nicht falsche, aber zumindest unpräzise Veränderungen meiner Beschreibungen.

Das journalistische Realitätsprinzip

Die dritte Episode stammt nicht von mir, sondern aus einem der bekanntesten deutschen Lehrbücher zur Reportage. Der Autor Michael Haller fragt darin, ob man seinen Texten „Details hinzudenken darf, sofern sie naheliegend sind und der Stimmigkeit der Geschichte dienen“. Diese Frage erörtert Haller am Beispiel einer Reportage aus den zwanziger Jahren über eine Wolga-Schiffsreise. Der Journalist Joseph Roth beschreibt darin einen Amerikaner, der die sozialistische russische Revolution verteufelt. Haller glaubt, dass Roth diesen Amerikaner erfunden hat. Doch unter bestimmten Umständen sei dies erlaubt, schreibt Haller auf Seite 170:

„Der Reporter muss sicher sein, dass derzeit (in diesen Tagen) tatsächlich kapitalistisch denkende amerikanische Staatsbürger auf russischen Wolgadampfern reisen. Weiß er von mehreren Fällen, dann darf er dem Zufall ein wenig nachhelfen und sich mit diesem Amerikaner auf demselben Schiff einquartieren. Er darf es, weil er die derzeitigen Realitäten auf Wolga-Dampfern nicht entstellt. Falls er aber nicht gewusst hat, ob es dort Amerikaner gab, dann war die Schmückung eine freie und unzulässige Erfindung (…). Das journalistische Realitätsprinzip besagt also, dass die zur Zeit anzutreffenden Verhältnisse gestalterisch ausgeschöpft, nicht aber entstellt werden dürfen.“*

Wo liegt die Grenze?

Ein Standard-Lehrwerk erlaubt also das Erfinden von Szenen, Zitaten und Protagonisten. Es gibt scheinbar Redakteure, die diese Arbeitsweise verinnerlicht haben. Und in der Ausbildung junger Journalisten, zumindest in meiner Ausbildung, werden die Themen „Wahrheit“ oder „Verantwortung“ kaum behandelt.

Da ist es wenig überraschend, dass manche junge Journalisten die Grenzen ausloten. Wenn die Wahrheit nicht mehr heilig ist, wird eben geschaut, wie stark man die eigene Geschichte umschreiben und verschönern kann, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Damit meine ich nicht nur Fälscherei à la Relotius, sondern auch kleinere Abweichungen wie beispielsweise die Fusion zweier Protagonisten. Dem F.A.Z.-Herausgeber Jürgen Kaube zufolge beginnt das Problem dieser Denke sogar schon beim Tonfall, wenn „der Regen gegen die Kaimauer peitscht“, und wenn Journalisten „Stories“ statt Nachrichten verfassen wollen. Wo also liegt sie, die Grenze, die nicht überschritten werden darf?

Michael Hallers Grenzversion mit dem Freibrief zur „gestalterischen Ausschöpfung“ geht eindeutig zu weit, ebenso wie die Abänderungen meiner Tee-Reportage aus Sri Lanka. Interessanter ist das Beispiel mit der Fusion der beiden Herren aus dem Croupier-Text. Es gibt keine Geschädigten, die beschriebenen Ereignisse sind tatsächlich passiert und der Artikel wird durch den Kniff lesenswerter. Und dennoch entspricht das Geschriebene nicht der Wahrheit. Untergrabe ich dadurch schon das Vertrauen der Kollegen und Leser? Ja, denke ich im Nachhinein. Denn wenn Unwahrheiten geduldet werden, dann bleibt die Grenze Auslegungssache.

Ich weiß nicht, ob die beschriebenen Erfahrungen stereotypisch für die gesamte Branche sind. Was ich allerdings weiß: Während der Zeit, die ich in verschiedenen Redaktionen verbrachte, wurde viel zu selten über Wahrheit diskutiert. Es gibt kaum redaktionelle Leitlinien dazu und falls es sie doch gibt, werden sie scheinbar zu lasch durchgesetzt. Solange das so bleibt, tragen Reporter selbst die Verantwortung dafür, wie streng sie mit der Wahrheit sind. Dass das schiefgehen kann, hat der Fall Relotius eindrücklich gezeigt.

*Die verwendeten Zitate stammen aus der sechsten Auflage des Lehrbuchs „Die Reportage“ aus dem Jahr 2008. Darin beschreibt Michael Haller außerdem eine Reportage, in der (dem Autor zufolge erlaubterweise) zwei Protagonisten zu einem fusioniert werden. Daran hatte ich mich in meinem Croupier-Text orientiert. Zum Thema Relotius hat Michael Haller dem Internetradio detektor.fm ein Interview gegeben, in dem er einen anderen Standpunkt vertritt als in seinem Lehrbuch.

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