Der Vinschger Höhenweg ist einer der wenigen alpinen Fernwanderwege, die schon im Frühling und bis in den Herbst begehbar sind. Man übernachtet auf Bauernhöfen, trifft Menschen, die das Bergleben lieben – und lernt Südtirol von seiner ruhigen Seite kennen.
Nach vier Tagen auf dem Vinschger Höhenweg hat man immer noch keine anderen Fernwanderer getroffen, mit denen man ein Schwätzchen halten könnte. Nur neugierige Ziegen, muhende Kühe und mistschaufelnde Bauern. Auf der fünften und letzten Etappe verabredet man sich also mit Kassian Winkler, Südtiroler Urgestein und mit 74 Jahren noch so energiegeladen, dass er regelmäßig 15-Stunden-Touren durch die Berge bestreitet. „In den Dolomiten sind die Wanderwege alles Autobahnen“, sagt er. „Hier im Vinschgau bist du alleine unterwegs und kannst die Natur genießen.“
Winkler arbeitet als Wanderführer und pflegt Wanderwege. Vor drei Jahren lief er den Vinschger Höhenweg ab, rund 105 Kilometer und 5000 Höhenmeter, brachte Wegweiser an und pinselte das rote Wegzeichen auf Felsen und Bäume.
Jedes Jahr folgen ein paar Hundert Menschen diesen Markierungen, die auf fünf oder sechs Etappen einmal quer durch den Vinschgau führen. Etwa 35 000 Menschen leben in der Region westlich von Meran, eingeklemmt zwischen Sesvennagruppe, Ötztaler und Ortler-Alpen. Im Tal reiht sich eine Apfelplantage an die nächste, an den Hängen kleben Bergbauernhöfe und Nadelwälder. Es ist ein ruhiger Fleck inmitten von touristischeren Gegenden wie Graubünden und Meran.
Das Besondere am Vinschger Höhenweg ist, dass er – im Gegensatz zu den meisten Mehrtagestouren in den Alpen – schon von April an und bis weit in den Oktober hinein begehbar ist. Denn ein großer Teil der Strecke verläuft an den sonnenbeschienenen Südhängen der Ötztaler Alpen, auf einer Höhe zwischen 1200 und 2000 Metern, wo es 300 Sonnentage und so viel Niederschlag wie in Sizilien hat. Die Etappen sind zwischen 13 und 27 Kilometer lang und durchaus anstrengend, aber technisch einfach und auch ohne alpine Vorerfahrung zu bewältigen. Nur einmal geht es auf einen Gipfel, und auch das nur auf einer optionalen Variante. Rundumblicke gibt es also kaum, dafür aber viele Pfade mit permanenten 180-Grad-Panoramen.
Zumindest theoretisch – denn praktisch ist das Wetter zumindest an unseren ersten Tagen meist schlecht. Nebelschwaden hängen zwischen Lärchen, Millionen rotbraune Nadeln dämpfen die Schritte, es riecht nach Harz und feuchter Rinde. An den Ästen haftet Moos, dazwischen treiben rosafarbene Zapfen aus. Wenn der Wind die Nebelsuppe dann doch einmal weglöffelt, reichen die Blicke kilometerweit ins Tal. Von oben betrachtet kriechen die Autos wie Schnecken über die Straßen, zwischen den Apfelbäumen fließt die Etsch, der zweitlängste Fluss Italiens. Und über allem wacht auf der gegenüberliegenden Talseite der 3905 Meter hohe Ortler, dessen Gipfel zerfurcht und beeindruckend sein soll, auf den ersten Etappen aber – noch – hinter Wolken verborgen bleibt.
Wenn man die oberbayerischen Alpen gewöhnt ist, fragt man sich auf dem Vinschger Höhenweg zwangsläufig irgendwann, wo man denn eine Radlerhalbe und einen Kaiserschmarrn bekommt. Aber man wandert hier durch Bergdörfer mit ein paar Dutzend Einwohnern, in denen es keine Supermärkte und kaum Gaststätten gibt. Schokoriegel oder Traubenzucker sollte man also vor der Wanderung einpacken. Tagsüber ernährt man sich von Jausepaketen – Äpfel und beim Frühstück geschmierte Semmeln –, abends schläft man meist auf Bergbauernhöfen. Dort ist das Essen dann so deftig, wie man es sich nach einer langen Wanderung wünscht: Einmal gibt es Knödeltrio mit Salat und Vanilleeis mit heißen Himbeeren, ein andermal Kürbiscremesuppe und Bratkartoffeln mit Peperonata und Kochwurst.
Eine dieser Unterkünfte, den Oberköbenhof, führen Daniela Schweigl und ihr Mann. Vom Balkon der Ferienwohnung reicht der Blick bis ins 1000 Meter tiefer liegende Tal, im Stall nebenan warten acht Kühe darauf, gemolken zu werden. Die braun gemusterte Olivia setzt zur Begrüßung erst mal einen Fladen auf den Betonboden. „Das ist das Beschissene an unserem Job“, sagt Schweigl, lacht, und schabt den Dung zur Seite.
Die 40-Jährige kommt ursprünglich aus dem Tal. 2014 zog sie mit ihrem Mann auf den Oberköbenhof, der Ruhe und der Tiere wegen. Schweigl ist gelernte Vermessungstechnikerin, die Hofarbeit brachte sie sich mithilfe von Youtube und Google selbst bei. Jeden Morgen steht sie um halb fünf auf, füttert und melkt die Kühe, mistet den Stall aus, etwa anderthalb Stunden lang. Abends noch mal das Gleiche. Im Sommer, wenn die Kühe auf der Alm sind, erntet sie auf den Bergwiesen Heu. Wer auf dem Oberköbenhof übernachtet, kann zum Frühstück einige Hofprodukte verkosten: Kakao mit frischer Kuhmilch, Eier, Speck, Holunderblütengelee.
Zurzeit sei die Hofarbeit nicht einmal kostendeckend, sagt Schweigl. Die Preise für Energie und Getreide seien stark gestiegen. Ein Kilogramm Kraftfutter für die Kühe kostet laut Schweigl mehr, als ein Liter Milch einbringt. Sowohl sie als auch ihr Mann müssen daher zwischen den Stallschichten zusätzlich Geld verdienen. Er ist Waldarbeiter, sie vermisst Grundstücke und ist an der Planung von Häusern beteiligt. Nur so ließe sich der Hof finanzieren, sagt Schweigl.
Vielen anderen Vinschger Bergbauern geht es ähnlich. Milch, Eier, Fleisch und Käse bringen kaum noch Geld und es ist schwer, mit den Bauern aus der Ebene zu konkurrieren. Immer mehr junge Menschen zieht es ins Tal, die Bergdörfer schrumpfen. St. Martin im Kofel, das Dorf der Schweigls, hat noch etwa 100 Einwohner. 2005 schloss die Bergschule, weil nur noch vier Kinder da waren. Seitdem müssen die Schülerinnen und Schüler jeden Morgen mit der Seilbahn ins Tal. Bald ist es auch bei den jungen Kindern der Schweigls so weit. Natürlich sei das Bergleben manchmal anstrengend, sagt Daniela Schweigl. Trotzdem würde sie es nicht mehr eintauschen: „Ich kann hier mit einer schmutzigen Hose zur Seilbahn gehen, ohne schief angeschaut zu werden. Oder stundenlang spazieren, ohne irgendjemandem zu begegnen.“
Diese Ruhe ist auch auf dem Vinschger Höhenweg spürbar. Die fünf Etappen zwischen dem Dorf Staben und der Etschquelle am Reschensee verlaufen oft auf schmalen Pfaden durch Lärchenwälder und an einigen verrottenden Bergbauernhöfen vorbei. Dazwischen geht man auf Asphaltstraßen und breiten Forstwegen. Im Sommer kann es auf dem Höhenweg sehr heiß werden, am schönsten soll er im Herbst sein, wenn die Lärchen gelb und rot leuchten.
Jetzt, außerhalb der Ferien, sind nur wenige Wanderer unterwegs. Stattdessen trifft man viele Tiere: Zweimal springen Hirsche und Rehe über den Weg, zwischen den Bauernhöfen streifen Katzen umher und auf den Weiden grasen Kühe, Ziegen und Schafe. Manche von ihnen galoppieren mit flatternden Ohren davon, andere kommen neugierig angetrabt und fordern Streicheleinheiten oder ihren Anteil an den Jausepaketen der Wanderer.
Obwohl an den Vinschger Südhängen kaum Regen fällt, tropft und plätschert es allerorten. Hoch oben zwischen den Gipfeln prasseln die Niederschläge herunter und suchen sich ihren Weg ins Tal. Um das Wasser zu den Höfen und Feldern zu leiten, gruben die Vinschger Bergbauern vor vielen Jahrhunderten Bewässerungskanäle in die Hänge. Zweimal verläuft der Höhenweg entlang solcher Waale. Diese Abschnitte zählen zu den schönsten des Fernwanderwegs. Noch heute geht mancherorts ein Waaler die Kanäle ab, hält sie sauber und bedient die Schleusen, damit jeder seinen gerechten Wasseranteil bekommt. Am Gschneirer Waal oberhalb der Ortschaft Schluderns trifft man einen jungen Mann, der mit einem Rechen Gräser aus dem Kanal fischt. Ob er der Waaler sei? „Na“, sagt er, „den hamma g’feuert. Jetzt müssen wir alles selber machen.“
Am fünften und letzten Tag klart das Wetter endlich auf, der Himmel ist eisblau. Nur der Ortler-Gipfel bleibt wolkenverhangen. Wanderleiter Kassian Winkler will einige Kilometer mitlaufen und wartet im Bergdorf Planeil, in dem er vor 70 Jahren aufwuchs. Früher hätten die Bauern hier noch Ochsen über die Hänge getrieben, um ihre Getreidefelder zu pflügen, erzählt Winkler. Heute ist alles voller Wälder und Wiesen. Winkler selbst wurde Heizungsingenieur, bekam irgendwann ein Burn-out. „Der Arzt hat gesagt, ich kann mir nur selbst helfen“, sagt er. „Da habe ich angefangen, in die Berge zu gehen.“
Seit vielen Jahren führt der 74-Jährige nun Wandergruppen durch den Vinschgau. In der Region gibt es laut Tourismusverband der Ferienregion Reschenpass mehr als 2500 Kilometer markierte Wanderwege, bei knapp 20 000 Gästebetten. Das sei ein deutlich entspannteres Verhältnis als beispielsweise in den Dolomiten, sagt Winkler. „Die Leute genießen es, dass wir hier keinen Overtourismus haben.“ Bald könnten weitere Wanderwege hinzukommen: Gemeinsam mit dem lokalen Tourismusverband plant Winkler eine Verlängerung des Vinschger Höhenwegs; ab Herbst sollen vier zusätzliche, optionale Etappen von Planeil durch das einsame Langtauferer Tal führen.
Noch führt der Weg von Planeil aber nur Richtung Reschensee. Auf dem Weg dorthin hält Winkler an einem Waal an und pflückt einige Stängel Bachkresse. Sie schmecken bitter und scharf, fast wie Senf. Dann verabschiedet er sich, und prompt ist es vorbei mit der Ruhe und Ursprünglichkeit. Auf den letzten Kilometern läuft man an der vielbefahrenen Straße zum Reschenpass entlang und erreicht schließlich das Vinschger Wahrzeichen: den versunkenen Kirchturm von Alt-Graun. Nur die oberen Meter ragen aus dem Wasser. Auf dem Parkplatz nebenan stehen die Autos dicht an dicht, beim „Tower Imbiss“ gibt es Schnitzelbrötchen und Hotdogs für sechs Euro fünfzig.
Vom Parkplatz aus geht es einen letzten Hügel hinauf, dann schieben sich die Wolken tatsächlich doch noch beiseite und geben den Blick auf den Ortler-Gipfel frei: Majestätisch thront er über dem Tal, wie ein riesiger Beschützer in weißem Umhang, darunter glitzert der See. Und man denkt sich, eigentlich banal, aber doch wahr: Allein für diesen Blick hat sich der weite Weg gelohnt.