Kibbuzim: Auf der Suche nach der Identität

Die Kibbuz-Bewegung in Israel steht an einem Wendepunkt. Die Auswirkungen der Krise aus den 80ern sind überstanden, die Schulden an den Staat seit drei Jahren abbezahlt. Die sozialistische Struktur der Kommunen verwischt jedoch immer mehr, ihre Identität verliert an Schärfe. Was bringt die Zukunft?

Dies ist der letzte Teil meiner Trilogie über Volunteering in Israel. Hier findet Ihr Teil 1 über meine Erfahrungen im Kibbutz Yotvata und Teil 2, der Organisation und Ethik von Volunteering in Israel behandelt.

Im südlichen Teil der Wüste Negev, näher am Roten als am Toten Meer und eingeklemmt zwischen Ägypten und Jordanien, liegt der Kibbuz Yotvata. Rund 700 Menschen wohnen hier: Die eine Hälfte Gäste, Arbeiter und Volunteers von außerhalb, die andere Hälfte Mitglieder der Kommune. Yotvata zählt zu den wenigen Kibbuzim, die ihre kollektivistische Struktur über die vergangenen Jahrzehnte hinweg nur geringfügig verändert haben. Im Speisesaal wird dreimal täglich aufgetischt, wenn Entscheidungen anstehen, treffen sich die Kibbuzniks in der Aula und debattieren. Sporthallen, Bücherei und ein Schwimmbad stehen zur kostenlosen Benutzung bereit. Niemand ist hier arbeitslos, die Löhne unterscheiden sich nur geringfügig und sind hauptsächlich von Alter und Familienstand abhängig.

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IMGP2613Swimming Pool und Speisesaal in Kibbutz Yotvata

Nicht viele der knapp 270 Kibbuzim haben über die Jahrzehnte hinweg an ihren Grundsätzen festgehalten. „Etwa 50“, schätzt die aus Yotvata stammende Maya Shafir. Unter der Woche arbeitet sie in Tel Aviv beim Kibbutz Movement Center und ist dort für die Vernetzung der Kommunen zuständig. „In den vergangenen 30 Jahren ging die Kibbuz-Bewegung durch eine riesige Krise“, erzählt sie. „Es begann als Wirtschaftskrise und wandelte sich in eine Vertrauens- und Identitätskrise.“ Bis zur Staatsgründung Israels 1948 definierten sich die Gemeinden durch die Besiedlung und Verteidigung des Landes – danach wurden sie von der sozialistischen Regierung unterstützt.

Viele Abgeordnete im Knesset hatten Wurzeln in den Kibbuzim. In den 70ern wurde die Arbeiterpartei durch den rechtsgerichteten Likud-Block abgelöst. Laut Shafir ein Wendepunkt für die Kibbuzniks. „Zeitgleich verschoben sich Teile der israelischen Gesellschaft und der ganzen Welt von einer sozialistischen hin zu einer neoliberalen Ideologie.“ Die Subventionen blieben aus und einige Jahre später standen die Kibbuzim plötzlich vor Schuldenbergen in Milliardenhöhe. Der freiwillige Sozialismus – doch nur eine Utopie?

Hin zu marktwirtschaftlichen Strukturen

Zwei grüne Dattelpalmen im Wüstensand, darunter ein Schriftzug, blau auf weiß: יטבתה – Yotvata. Jeder Israeli kennt dieses Logo, das auf Milchtüten prangt. Schoko-, Erdbeer-, Kaffee- und Kuhmilch: Die Molkereiprodukte aus der Negev stehen in den Regalen des ganzen Landes. Der Vertrieb von Milch machte Yotvata schon in den 60ern zu einem wohlhabenden Kibbuz und sorgte für das Ausbleiben der großen Krise. Deswegen ist Yotvata immer noch wie früher: Die Schekel wurden nie knapp, der Solidaritätsgedanke stand nie zur Debatte.

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IMGP2688Milch- und Dattelproduktion sind die beiden größten Einnahmequellen in Yotvata

Nicht viele Kibbuzim hatten so viel Glück. Vor der Krise lebten sie größtenteils von der Landwirtschaft, heute macht der Agrarsektor nur noch 15 Prozent der Umsätze aus. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen die Kommunen zur ökonomischen und ideologischen Umstrukturierung: Die Agrarbetriebe wichen Industrie und Dienstleistung, die homogene Gemeinschaft driftete auseinander und der Individualismus verdrängte die Kollektividentität. Die Entscheidungsfreiheit der Mitglieder nahm zu. Heute hängt ihre Bezahlung oft von Alter oder Job ab. Privateigentum und Arbeitskräfte von außerhalb sind keine Seltenheit mehr. Gemeinsame Einrichtungen wie die Wäscherei und den Speisesaal gibt es zwar noch, müssen aber meist extra bezahlt werden.

Die Strategie ging auf: „Kein Kibbuz hat sich aufgelöst. Den meisten geht es heute wirtschaftlich blendend“, so Shafir. Der Kibbuz Sasa gründete ein erfolgreiches Rüstungsunternehmen, in Degania Beth gibt es eine Schokoladenfabrik und Ein Gev vermietet luxuriöse Hütten am Strand des See Genezareth. „Viele Kibbuzim sind keine Kommunen mehr, aber sie sind immer noch multifunktionale Kooperativen.“ Die Marktwirtschaft hat sich durchgesetzt, dennoch geht der Trend zurück zum Sozialismus. Bildung, Gesundheitswesen, Kultur – an vielen Stellen werden die Privatisierung rückgängig und alte Kollektivstrukturen wieder aufgebaut. Junge Familien ziehen von den Städten in den Kibbuz, die wohlhabenderen können sich vor Anfragen kaum retten. Alterung und Rückgang der Bevölkerung wurden gestoppt – das unkonventionelle Lebensmodell ist in Israel wieder in Mode.

Inseln des alternativen Lebens

Manchmal fühlt sich das Leben in Yotvata an wie in einer riesigen Blase: Weit weg von der Realität, ein Ort an dem Kriminalität kaum eine Rolle spielt, ohne Unterschicht, ohne Oberschicht, ohne Autos in den Straßen. Das Dasein bietet keine Fallhöhe, denn das soziale Netz ist fest gespannt und direkt unter den Füßen. Das Konkurrenzdenken des Kapitalismus ist hier nicht präsent. „Kinder, die in Kibbuzim aufwachsen, werden von Tag eins an sozialisiert“, erklärt Maya Shafir, wenn sie von ihrer Gemeinschaft redet. „Sie lernen zu kooperieren, auf die Bedürfnisse der anderen zu achten und Entscheidungen demokratisch, als Gruppe zu treffen.“ Die Motivation, sich anzustrengen, kommt im Kibbuz nicht von monetären sondern von sozialen Belohnungen: Ein guter Arbeiter verdient sich Respekt und Sympathien.

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IMGP2739Auch Teil von Yotvata: Pferderanch und Blumenzucht

Doch darin liegt die Crux: Der Erfolg des Sozialismus fußt auf Solidarität und Loyalität. Kann er nur auf Dorfebene funktionieren? „Eine Menge Arbeit ist nötig, damit die Mitglieder engagiert und verantwortlich bleiben“, so Shafir. „Es ist ermüdend. Sobald man aufgibt – fällt alles auseinander.“ Kein Kibbuz beherbergt mehr als 2000 Einwohner. Der Verhaltenskodex verbietet, den Nachbarn untätig auf der Tasche zu liegen. Je größer die Gemeinschaft, desto geringer der soziale Druck und die eigene Verantwortung für die Leistung des Kollektivs.

„Eine genossenschaftliche Gemeinschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete“ – das war das Credo der zwölf Siedler, die 1910 den ersten Kibbuz Degania Alpha gründeten. Von ihren ursprünglichen Ideen sind viele an der Realität gescheitert, aber die Inseln des alternativen Lebens existieren weiterhin. Sie erleben derzeit den zweiten Frühling, ohne zu wissen, was der Sommer bringt. Das weiß auch Maya Shafir: „Wir suchen nach einer neuen Mission. Die Kibbuzim sind auf der Suche nach ihrer Identität – und es ist definitiv eine sozialistische.“

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Pictures from Israel

Teil 1: Four months in the Negev

Teil 2: How to volunteer in a Kibbutz

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