Wie ist es, nach anderthalb Jahren Pandemie endlich wieder zu reisen? Und was lernt man dabei über das Land? Eindrücke aus vier Wochen in Mexiko, Teil 2.
In San Cristóbal de las Casas, einer Stadt im Hochland des Bundesstaats Chiapas, lande ich in einem Partyhostel: Im Innenhof brennt ein Lagerfeuer, an der Bar gibt es günstigen Alkohol und in der Stadt jede Menge Drogen und nächtliche Raves. Manche meiner neuen Mitbewohner machen jede Nacht zum Tag und ich frage mich, ob sie eigentlich zum Reisen oder zum Feiern nach Mexiko gekommen sind. Wenn man die Nachrichten aus der Heimat liest (Landkreise mit einer Inzidenz von mehr als 2000, Lockdown in Österreich), fühlt sich diese Partystimmung etwas surreal an.
Das Schöne am Alleinreisen ist, dass man tatsächlich die Wahl hat, ob man seine Zeit alleine oder in Gesellschaft verbringen will. Am ersten Abend setze ich mich noch mit einem Bier ans Lagerfeuer, dann werden mir die immergleichen, oberflächlichen Gespräche (where are you from? how long have you been here? what do you think about this or that tour/town/sight?) zu viel. Ich seile mich ab und denke an einen Spruch, den mir ein anderer Backpacker in Mexico City mitgegeben hat: “Getting drunk is fun, but the alcohol steals happiness from tomorrow.” Früher hätte ich wohl noch länger Party gemacht; mittlerweile ist es mir wichtiger, am nächsten Tag fit zu sein.
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Chamula ist der einzige Ort während meiner Reise, an dem ich von der Pandemie kaum etwas merke. Die Stadt liegt einige Kilometer nördlich von San Cristóbal und ist Heimat der indigenen Tzotzil. Hier gelten noch viele alte Bräuche und Traditionen, zum Beispiel: Krankheiten werden in “warme” und “kalte” Krankheiten eingeteilt, und dagegen helfen jeweils “warme” oder “kalte” Speisen. Corona gilt als kalte Krankheit und kann daher mit warmen Speisen wie Reis, Tortillas oder Huhn behandelt werden. Impfungen hingegen gelten in Chamula als nutzlos und Masken trägt auch niemand.
Auch in anderen Belangen lassen sich die Tzotzil nicht in ihre Lebensweise hineinreden. Sie sind selbstverwaltet, haben ihre eigene Sprache und sogar eigene Polizisten, die eine weiße Uniform aus Schafspelz tragen. Anders als im restlichen Mexiko gilt hier noch die Todesstrafe. “Für Vergewaltigung, Kidnapping und natürlich Mord”, sagt Cesar, der uns bei einer geführten Tour die Eigenheiten Chamulas erklärt. Vor einigen Jahren seien drei Vergewaltiger und Mörder dabei erwischt worden, wie sie gerade die Leiche ihres Opfers beseitigen wollten. Die Stadtbewohner hätten die Täter an einen Baum gebunden, mit Benzin übergossen und angezündet. Auch ein Bürgermeister sei kürzlich zu Tode gesteinigt worden, “wegen Korruption”, sagt Cesar. “Die Kriminalitätsrate ist hier sehr niedrig.”
Am Marktplatz von Chamula steht eine einzigartige Kirche. Von außen wirkt sie unspektakulär; ihre Magie entfaltet sich erst, wenn man sie betritt. Innen gibt es keine Bänke, stattdessen ist der Marmorboden mit Piniennadeln übersät. Auf kleinen Hockern stehen Kelche mit qualmendem Weihrauch, an den Wänden hängen Schreine mit Ikonen von Heiligen – San Pedro, San Antonio, Santa Martha -, und überall in der Kirche brennen Kerzen. Es müssen mehr als zehntausend sein. Dazwischen sitzen einige Dutzend Einheimische, manche von ihnen beten und bekreuzigen sich, andere trinken Cola oder verschicken WhatsApp-Nachrichten. Die Kirche ist voller Leben. “Its not a show”, sagt unser Guide Cesar mehrmals, “its all very authentic.”
In einer Ecke entdecke ich ein Huhn, das den Kopf aus einer Plastiktüte streckt. Es soll geopfert werden, um eine Krankheit zu heilen, erklärt Cesar. Dazu schwenkt ein Schamane oder eine Schamanin das Huhn über den Kerzen, dann am Körper des Patienten entlang. Schließlich dreht der Schamane dem Huhn den Kopf um. “Das soll die Seele des Kranken zurück in die Welt bringen”, sagt Cesar.
Bräuche wie dieser sind Cesar zufolge der Grund, warum christliche Missionare immer wieder ins Dorf einfallen und versuchen, die Tzotzil zu “bekehren”. Bislang ohne Erfolg. Die alten Traditionen sind stark in der Gemeinschaft verankert.
Als ich nach dem Kirchenbesuch über den Dorfmarkt schlendere, merke ich, wie reserviert die Tzotzil gegenüber Außenstehenden sind. Mehrere von ihnen frage ich, ob ich sie fotografieren darf, aber sie lehnen alle ab. Auch in der Kirche ist Fotografieren verboten. Als ich Cesar frage, woran das liegt, sagt er: „Vor vielen Jahren glaubten die Menschen hier, dass sie ein Stück ihrer Seele verlieren, wenn man sie fotografiert. Mittlerweile denken sie, dass die Fotografen mit den Bildern Geld verdienen. Und das wollen sie nicht.“
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Ein Wort zur Sprache. Das Englisch der meisten Mexikaner ist grauenvoll, wird darin aber von meinem noch grauenvolleren Spanisch übertroffen. Ich kann zwar nach dem Weg und der Rechnung fragen. Aber sobald es um komplexere Themen geht, zum Beispiel die Feinheiten der Speisekarte, ist das Gespräch meist schneller vorbei, als ich “no comprende” sagen kann. Und dann rege ich mich auf, denn ich bin selbst Schuld an meiner Misere: Ein halbes Dutzend Mal habe ich mich schon dazu aufgerafft, endlich Spanisch zu lernen, aber auch ein halbes Dutzend mal nach ein paar Einheiten wieder aufgehört. Und so bleiben die meisten Begegnungen mit Mexikanern auch dann oberflächlich, wenn ich gerne mehr erfragen und erfahren würde.
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Um trotzdem mehr über das Land zu lernen, lese ich zwei Reisebücher: In Mexiko (2018) vom deutschen Reiseschriftsteller Andreas Altmann und Auf dem Schlangenpfad (2019) von seinem amerikanischen Kollegen Paul Theroux.
Altmanns Blick auf das Land ist sehr subjektiv, seine Sprache intensiv. Er reist mit einer Haltung, die er selbst mit dem schönen Wort ‚weltwach’ beschreibt: Sein Reporterblick ist mal provozierend, mal voller Mitgefühl, aber immer aufmerksam auf die Leute gerichtet, die ihm während seiner Reise begegnen.
Weil Altmann dabei hauptsächlich in den großen Städten bleibt, fehlt in seinem Buch aber die Perspektive auf die Menschen im Hinterland; auf diejenigen, die für zwei Euro am Tag Körbe flechten oder Tücher weben. Theroux hingegen bereist auch die ganz abgelegenen Dörfer in den Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas, die – wären sie eigene Länder – zu den ärmsten der Welt zählen würden. Therouxs Buch liest sich in der zweiten Hälfte stellenweise zäh, seine detailreichen Beschreibungen und die Ausflüge in die Tiefen der mexikanischen Literatur sind manchmal langatmig. Dafür ist sein Blick deutlich journalistischer und tiefergehender als der von Altmann. Theroux trifft sich mit Künstlerinnen, Indigenen, Handwerkerinnen und vielen ehemaligen Emigranten (man bekommt zeitweise das Gefühl, als habe sich jeder zweite Mexikaner irgendwann in seinem Leben in die USA durchgeschlagen oder es zumindest versucht); man lernt eine Menge über Land, Leute, Politik und die mexikanische Kultur.
Ich kann beide Bücher empfehlen, sie ergänzen sich gut.
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Nachtbus von San Cristóbal nach Palenque. Um 10 Uhr abends steigen wir ein, um kurz vor Mitternacht wieder aus, obwohl die Fahrt eigentlich neun Stunden dauern soll. Der Grund: Bei einem Zwischenstopp soll der Bus gereinigt werden. Ein Mitarbeiter der Transportfirma wischmoppt den Gang, dann schiebt sich ein anderer mit einem klobigen Gerät durch den Bus und versprüht damit Desinfektionsmittel. Als wir kurz nach Mitternacht wieder einsteigen, sieht es aus wie auf einer vernebelten Tanzfläche. Um kurz nach fünf werden wir dann nochmal von unseren Sitzen verscheucht, wieder wird der Bus gereinigt und desinfiziert. Alles muss seine Ordnung und Hygiene haben.
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“The Mayans believed that the first humans were made of corn dough.” Als ich auf einer Hinweistafel diesen Satz lese, kann ich nicht so ganz glauben, dass die Maya als fortschrittlichste Zivilisation ihrer Zeit galten. Aber ich muss mich nur umdrehen, schon hat sich dieser Gedanke erledigt: Am anderen Wegesrand erheben sich die prachtvollen Pyramiden von Palenque, mitten im Dschungel von Chiapas. Die Maya errichteten sie zwischen 300 vor und 800 nach Christus, und zwar ohne das Rad, ohne Metallwerkzeuge und ohne Nutztiere.
Seit der Pandemie darf man die Pyramiden leider nicht mehr besteigen. Aber inmitten des Dschungels (im Gebüsch sitzt ein Leguan; ab und an hört man Brüllaffen schreien) sind sie auch von unten eindrucksvoll genug.
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Einige Meter von den Pyramiden entfernt beginnt ein Pfad durch den Dschungel, auf dem ein Caballero mit einem Sombrero an mir vorbeireitet. Er hat ein interessantes Gesicht – ich frage ihn, ob ich ihn fotografieren darf. Kurz schweigt er, dann sagt er grimmig: “Porqué? Trabajas para un periódico? Arbeitest du für eine Zeitung?”, in einem Ton und mit einem Blick, als ob er bei einer falschen Antwort seine Machete nach mir werfen würde. Nun ja, eine wahrheitsgetreue Antwort traue ich mich nicht zu geben, also stelle ich mich als Tourist vor, was ja auch nicht falsch ist. Der Caballero scheint zufrieden zu sein. Ein paar Sekunden lang blickt er in die Kamera, bevor er sich wortlos umdreht und davonreitet.
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