Eindrücke aus Mexiko: Yucatán

Wie ist es, nach anderthalb Jahren Pandemie endlich wieder zu reisen? Und was lernt man dabei über das Land? Eindrücke aus vier Wochen in Mexiko, Teil 3.

Eindrücke aus Mexiko, Teil 1
Eindrücke aus Mexiko, Teil 2

Schon wieder eine nächtliche Busfahrt, diesmal von Palenque nach Xpujil. Xpujil ist keine Großstadt, sondern ein Ort mitten im Nirgendwo, umgeben vom Dschungel. Wenn Touristen hierher kommen, dann meist, um die immer noch zwei Fahrstunden entfernten Ruinen von Calakmul zu besuchen. Um Mitternacht kommen wir an, es regnet wie aus Badewannen. Zum Glück habe ich ein Zimmer in einem Hotel reserviert, das nur 100 Meter vom Terminal entfernt ist. 

Ich sprinte durch den Regen – und stehe vor einem geschlossenen Hoftor. Mit aller Gewalt klopfe ich dagegen, schreie gegen den Regen an, aber nichts passiert.

Ich sprinte zurück zur Bushaltestelle, dort steht ein einsames Taxi. Eigentlich ist es keine gute Idee, nachts bei einem fremden Fahrer einzusteigen. Aber ich bin immer noch in Xpujil, nicht in Rio oder Mexico City, und Juan hat ein rundes, freundliches Gesicht und will helfen.

Wir fahren einige düstere Wohnblocks entlang, dann hält Juan vor dem Wohnhaus des Hotelbesitzers und hupt ihn aus dem Schlaf. Der Mann an der Rezeption sei eingeschlafen, sagt der Besitzer, er werde sich kümmern.

Wir fahren zurück zum Hotel, das Hoftor ist immer noch verschlossen. Also fängt Juan an, zu erzählen. Seit vier Jahren wohne er in Xpujil, sagt er. Vorher arbeitete er in Cancún im Unternehmen seiner Familie. Weil es gut lief, wollten die Narcos Schutzgeld – 4000 Euro pro Monat. Die Familie zahlte nicht, erzählt Juan. Die Narcos töteten seinen Bruder und Vater. “Dann bin ich nach Xpujil gekommen”, sagt Juan: “Es más tranquilo aqui”, hier sei es viel ruhiger.

Juan schaut mich traurig an, ich schaue traurig zurück, ein paar Minuten später geht doch noch das Hoftor auf. Ich verabschiede mich von Juan und falle ins Bett. 

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Am nächsten Tag fahre ich mit zwei Franzosen und zwei Belgiern nach Calakmul. Obwohl es eine der größten und wichtigsten Maya-Stätten ist, kommen pro Tag nur etwa 100 Besucher hierher. Xpujil liegt ja schon mitten im Nirgendwo, und von dort sind es immer noch 120 Kilometer bis nach Calakmul. Bei den riesigen Ruinen ist also nicht viel los.
 

Wegen der Pandemie ist ein Teil des Areals gesperrt, manche Pyramiden darf man sich also schlichtweg nicht anschauen. Wirklich verständlich ist das in meinen Augen nicht. In einem unbeobachteten Moment schlüpfe ich am gelben Absperrband vorbei und habe mehrere Ruinen komplett für mich alleine. Sie sind zwar nicht so groß und beeindruckend wie jene im frei zugänglichen Teil, dafür lässt sich hier besonders gut beobachten, wie gierig sich der Dschungel über die Steine frisst: Moos, Wurzeln und Sträucher drängen sich in jede Ritze. Hunderte von Jahren gehörten die Ruinen allein den pflanzlichen Besetzern. Welch unglaubliche Arbeit es gewesen sein muss, die Steine Stück für Stück wieder freizulegen!

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Bacalar ist ein Dorf an einer himmelblauen Lagune, einige Kilometer vom Atlantik entfernt. Früher segelten regelmäßig Piraten der Karibik in die Lagune ein und belagerten die Stadt. Heute passiert hier aber so wenig, dass ich während meiner Zeit in Bacalar nichts erlebe, das als spannende Geschichte taugt. Ich entspanne ein paar Tage und fotografiere viel.

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Das Reisen in Yucatán fühlt sich anders an als in Oaxaca oder Chiapas. Die Region ist sehr touristisch, es gibt viele Pauschalreisende, und eine ganz besondere Spezies hat hier ihr Kernverbreitungsgebiet: Der sogenannte Instagram-Husband, dessen vorrangige Aufgabe es ist, seine famose Gattin in allen erdenklichen Posen zu fotografieren. Bei einem solch bezaubernden Vordergrund wird natürlich selbst die fantastischste Szenerie zu schnödem Beiwerk.

Eine weitere in Yucatán oft anzutreffende Gattung ist der Homo Selfiensis, der sich in freier Wildbahn stets selbst ablichtet und dessen einziger natürlicher Feind der Sonnenbrand ist. Bei ihm ist das Repertoire an verfügbaren Posen geringer als beim Instagram-Husband, da ein Arm ja stets das Handy halten muss.

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Von mexikanischen Polizisten hört man, dass sie oft korrupt seien, auf der Gehaltsliste der Kartelle stünden, dass sie sowohl den eigenen Landsleuten als auch den Gringos manchmal gewaltig in die Suppe spucken. Als mich ein Polizist bei einem Verkehrsdelikt erwischt, komme ich also ziemlich ins Schwitzen.

Ich will mit einem Roller einige Sehenswürdigkeiten in der Umgebung der Kleinstadt Valladolid abklappern. Den Weg habe ich mir grob eingeprägt. An einer Stelle übersehe ich jedoch ein Verkehrsschild – und lande prompt in einer Einbahnstraße. An der nächsten Ecke will ich wieder abbiegen, da stoppt mich eine Streife. Ob ich denn wisse, was ich falsch gemacht hätte, will der Polizist wissen, und verlangt eine “identificación”. Ich reiche ihm schuldbewusst meinen Führerschein und bin erstmal ziemlich kleinlaut – schließlich liegt in dieser Situation alle Macht bei meinem Gegenüber. 

Aber Balak, so heißt der Polizist, meint es gut mit mir. Beim nächsten Mal solle ich besser aufpassen, sagt er mit strengem Blick, wünscht mir dann eine gute Weiterfahrt. Und ich denke mir: Was habe ich mal wieder für ein Glück. 

Nach der Begegnung mit Balak fahre ich also weiter; zunächst zur Ruinenstadt Ek Balam, dann zu zwei Cenoten, mit Wasser gefüllten Höhlen, von denen es in Yucatán viele tausende gibt.

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Tacos, Tortillas, Tortas, Tostadas, Tlayudas, Nachos, Enchiladas, Elotes, Esquites, Chilaquiles, Tamales: Die Liste der mexikanischen Gerichte, die auf Mais basieren, scheint endlos zu sein. Der Mais ist ein Nationalheiligtum, über das der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz sagte: “Die Entdeckung des Mais durch die Mexikaner ist nur vergleichbar mit der Entdeckung des Feuers für den Menschen.” 

Millionen von mexikanischen Existenzen hängen am Mais. Bei einer Reise durch das Land begegnet man ihm also immer wieder – sei es auf den Feldern der Bergdorf-Bauern oder an der nächsten Straßenecke, wo ein Verkäufer seine gegrillten Kolben anpreist.

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Mein Rückflug geht von Mexico City. Ich will dort noch etwas Zeit verbringen, fliege deshalb zwei Tage vorher in die Hauptstadt – und fühle mich wie in einer anderen Welt: Die Strassen sind voller Menschenmassen und Marktschreier, voller Krankenwagen und trillernder Verkehrspolizisten, voller Totenköpfe und Taco-Stände, voller Geräusche und Gerüche von fettigem Fleisch und manchmal auch Fäkalien – kurzum: voll von allem, was Mexiko zu bieten hat.

Ich fahre ins Stadtviertel Coyoacán, in dem Frida Kahlo ihr Leben verbrachte. Die Casa Azul, ihr einstiges Wohnhaus, beherbergt heute ein Museum, in dem ein Teil ihres Lebenswerks ausgestellt ist. Ich bewundere, was diese Frau alles erreicht hat. Mit sechs bekam sie Polio und ein verkürztes Bein. Als sie 18 war, rammte eine Straßenbahn den Bus, in dem sie saß. Eine Stahlstange durchbohrte ihr Becken und brach ihr die Wirbelsäule. Frida Kahlo überlebte nur knapp und litt ihr ganzes Leben lang unter starken Schmerzen.

Und trotzdem hatte diese Frau einen ungebrochenen Lebenswillen, malte 143 Bilder, wurde zu einer weltweiten Ikone für Künstler und Feministinnen, zu einer der bekanntesten Frauen Lateinamerikas.

Als ich abends auf dem Zócalo sitze, dem riesigen Stadtplatz von Mexico City, denke ich mir: So wie Frida Kahlo war, so ist auch Mexiko. Auch dieses Land leidet jeden Tag. Unter der Korruption, unter den Kartellen, unter der Gewalt. Und trotzdem sind die Menschen stolz und herzlich und voller Lebensdrang.

1954 starb Frida Kahlo im Alter von nur 47 Jahren. Kurz vor ihrem Tod malte sie ein Bild von einigen Wassermelonen. Es sagt etwas darüber aus, was für ein Mensch sie war. Denn mit diesem Gemälde, so scheint es, wollte Frida Kahlo – wie so viele Mexikaner – dem Tod ins Gesicht lachen: In eine der Wassermelonen ritzte sie einen knallroten Schriftzug. Viva la vida. Es lebe das Leben. 

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